William Garner Sutherland (1873-1954) wurde im ländlichen Portage County, Wisconsin, geboren. Wie Still wurde auch Sutherland vom einfachen Leben des Mittleren Westens mit seinem bäuerlichen Charakter nachhaltig beeinflusst. Ein Erlebnis sollte ihn hierbei besonders prägen: In einem Beet im Garten ließ Sutherlands Vater seine Kinder Kartoffeln anpflanzen und später ernten. Nachdem sie bei der Ernte scheinbar alle Kartoffeln gefunden hatten, sagte der Vater sie sollten noch mal graben und erneut suchen – „Dig on!“ – und wieder fanden sie Kartoffeln. Auch ein dritter Versuch war von Erfolg gekrönt. Dieses sorgfältige und hartnäckige Graben nach versteckten Zielen prägte Sutherlands spätere Forschung an den Schädelknochen nachhaltig, da er sich mit jedem auch noch so kleinen anatomischen Detail vertraut machte, um dessen funktionelle Bedeutung zu ergründen. „Dig on!“ – die Suche nach dem Unsichtbaren – sollte zum Leitmotiv seines Lebens werden.
Sein erstes Geld verdiente Sutherland sich als Druckerjunge beim Blunt Advocate. Rasch bewährte er sich und stieg bis 1890 zum Vorarbeiter empor. 1893 ging er nach Fayette, Iowa, um die Upper Iowa University zu besuchen. Anschließend kehrte er zur Zeitung zurück und wurde schließlich der Herausgeber des Daily Herald in Austin, Minnesota. In dieser Stellung hörte er 1898 von Dr. Still und der Osteopathie. Noch im selben Jahr schrieb er sich in der American School of Osteopathy ein und schloss seine Ausbildung mit dem Jahrgang von 1900 ab. Sein Studiengeld besserte er sich u.a. mit dem Redigieren der Texte seines Physiologie-Lehrers Dr. Littlejohn auf, der zugleich auch Sutherland Kommilitone war. Ein interessantes Detail, denn Littlejohn schrieb bereits zu diesem Zeitpunkt über Bewegungen im Schädel.
„Wie die Kiemen….“
Gegen Ende seiner Ausbildung kam dem jungen Sutherland beim Betrachten der Suturen einzelner Schädelknochen eines disartikulierten Schädels der Gedanke „Wie die Kiemen eines Fisches“. Er antizipierte eine atemähnliche Bewegung in den Suturen und versuchte seine Hypothese in den folgenden Jahrzehnten durch gewagte Eigenexperimente zu widerlegen (!). Da es ihm nicht gelang, übertrug er das Konzept der traditionellen Osteopathie auf die Schädelknochen, entwickelte dazu ausgefeilte und extrem feine Techniken und begründete damit das Konzept der Kranialen Osteopathie. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass Charlotte Weaver DO und ebenfalls Abolventin der ASO (1912) bereits vor Sutherlands späterem Erstlingswerk The Cranial Bowl (1939) einige bedeutende Artikel über die Schädelmotilität veröffentlicht hatte, und es ist auch von dieser Seite ein gewisser Einfluss denkbar.
Kraniale Osteopathie
Nach über zwei Jahrzehnten der Forschung im kranialen Bereich wagte sich der sonst stille Sutherland Anfang der 1930er unter einem Pseudonym an seine Berufskollegen. Im Minnesota Osteopathic Journal unterbreitete er erstmals die Grundideen seines Konzeptes, welches zu jener Zeit den „Primärer Respiratorischer Mechanismus“ (PRM) noch nicht beinhaltete. Die Reaktionen auf seine Kolumne waren äußerstunterschiedlich, von vehementer Ablehnung, bis zur ehrlichen Ermunterung zu weiteren Forschungen in diesem Gebiet. Aufgrund des steigenden Interesses einer kleiner Gruppe Osteopathen veröffentlichte Sutherland 1939 das bereits erwähnte Büchlein The Cranial Bowl, in dem er das Resultat von 40 Jahren Forschung auf wenigen Seiten darlegt. Trotz des mäßigen Echos fährt er fort, die Kraniale Osteopathie immer weiter zu vertiefen. Und Mitte der 1940er überrascht er seine Kollegen erneut mit einer bahnbrechenden Neuerung: Sutherland beginnt in seinen Seminaren zunächst noch zurückhaltend, später immer offener die Begriffe „flüssiges Licht“, „Potency“ und „Primärer Respiratorischer Mechanismus“ (PRM) in Verbindung mit dem bekannten Bibelausdruck „Atem des Lebens“ zu erläutern. In diesem Zusammenhang dürfte er vom amerikanischen Philosophen und Künstler Walter Russell ebenso nachhaltig beeinflusst worden sein, wie ehemals Still vom englischen Philosophen Herbert Spencer. In Sutherlands offener Benennung und Betonung der Spiritualität zeigt er sich ganz in der Tradition seines verehrten Lehrers, denn auch Still hatte metaphysische Aspekte zeitlebens als natürlichen Bestandteil der dreifach differenzierten Einheit des Menschen gesehen. Sutherland betonte vor diesem Hintergrund zudem oft und nachdrücklich, dass seine inzwischen als Kraniosakrale Osteopathie bezeichnete Methode als integraler Bestandteil der traditionellen Osteopathie zu verstehen ist und unter keinen Umständen eine eigenständige Behandlungsform darstellt.
1954 stirbt Sutherland als einer der meistgeehrten Mitglieder seines Berufsstandes und obwohl der PRM bis heute nicht nachgewiesen werden konnte, gilt die Kraniosakrale Osteopathie als einer der großen Pfeiler der Osteopathie.