Osteopathieausbildung für Blinde und Sehbehinderte. Interview mit Piet Dijs
(3-2012)
Piet Dijs
Interview mit Piet Dijs, Leiter der Ausbildung für Blinde und Sehbehinderte in der Osteopathie, ABSO.
von Christoph Newiger
Lieber Piet, du betreibst in Mainz eine fünfjährige berufsbegleitende Ausbildung für Blinde und Sehbehinderte in der Osteopathie (ABSO). Wie ist die Idee dazu entstanden und seit wann gibt es diese Ausbildung?
Die Idee entstand vor etwa sieben Jahren. Wir, Konfortos, mieteten damals am Berufsförderungswerk in Mainz Räume für postgraduierten Kurse. Der ehemalige Direktor dieser Schule, Gerhard Baumann, fragte mich, ob ich eine Osteopathie- Weiterbildung für blinde und sehbehinderte Physiotherapeuten geben würde. Nach einer Woche Überlegungszeit habe ich diese Herausforderung angenommen. Meine Bedingung war jedoch eine komplette berufsbegleitende Ausbildung zu geben, weil die Osteopathie nicht in einzelnen Kursen zu erlernen ist. Sie ist eine Einheit aus Denken, Handeln und Dasein.
Wie groß sind die einzelnen Klassen und wie viele Osteopathen haben an der ABSO ihre Ausbildung bereits abgeschlossen?
Die Klassen sind unterschiedlich groß. Eben hat die „Pilotklasse“ abgeschlossen. Es waren 18 Teilnehmer, welche die Zulassung zur klinischen Prüfung erhalten haben. Wir mussten erst herausfinden, ob so ein Projekt überhaupt realisierbar ist. Eine kleine Klasse befindet sich im 4. Ausbildungsjahr und eben hat ein neuer Kurs angefangen. Die relativ kleine Klassengröße bietet uns die Möglichkeit unser Kurrikulum nach den Richtlinien der Akademie für Osteopathie, AFO, optimal für diese Zielgruppe anzupassen und mit Respekt für die Tradition auszufeilen. Im Sinne von Gustav Mahler: „Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche."
In der Ausbildung generell, besonders an Schulen (integrative und inklusive Schulen), versucht man vielerorts Behinderte in den Unterricht von Nicht-Behinderten zu integrieren. Ist das in der Osteopathieausbildung nicht oder nur schwer möglich? Warum also, dieses spezielle Angebot für Sehbehinderte und Blinde?
In den Klassen der Berufsförderungswerke befinden sich zur Integration auch Nicht-Behinderte. Es gibt immer wieder einzelne Blinde oder Sehbehinderte, welche die bestehenden Schulen besuchen. Meist ist das für sie eine sehr aufwändige Angelegenheit, weil die Materie oft nicht anschaulich beschrieben wird, sondern fast nur visuell an die Wand projiziert wird. Man braucht eine spezifische Infrastruktur zu der zum Beispiel Punktschriftskripten, Hörbücher, digitale, für Sprachprogramme lesbare Skripten, viele anatomische Modelle und tastbare Relief-Abbildungen zählen. Die theoretischen anatomischen Fächer werden so fast zu praktischen Fächern. Wir vom ABSO-Team konnten unsere Art zu unterrichten auch für Sehende interessanter machen. Man taucht auf verschiedene Arten in die gleiche Materie ein und kommt so mehr in die Tiefe. Ziel von unserem Projekt ist es schlussendlich eine Ausbildung von Blinden, Sehbehinderten und Sehenden für Blinde, Sehbehinderte und Sehende zu etablieren.
Du kooperierst dabei mit Dr. med. Roger Weis vom Zentrum für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie der Rheinhessen-Fachklinik Mainz. Was habt ihr für eine Arbeitsteilung?
Dr. med. Roger Weis bildet mit mir zusammen die Leitung dieser Ausbildung. Er hat die Verantwortung für die medizinischen Fächer. Wir arbeiten schon länger im Rahmen von postgraduierten Kurse über pädiatrische Aspekte in der Osteopathie zusammen. Er versteht mittlerweile einiges über unseren Beruf und so können wir die medizinischen Fächer immer zielgerichteter an das Kurrikulum anpassen.
Das Berufsförderungswerk Mainz ist Veranstalter eurer Osteopathieausbildung ABSO. Wofür ist das Berufsförderungswerk genau zuständig?
Das Berufsförderungswerk Mainz ist so freundlich uns die Infrastruktur zu stellen und die Administration der Schüler zu übernehmen.
Du hast jahrelang an Osteopathieschulen unterrichtet. Wie unterscheidet sich der Unterricht an solchen Schulen von der Ausbildung, die du Blinden und Sehbehinderten in Mainz anbietest?
Der Inhalt ist idealerweise der Gleiche. Wir haben hier die Chance ein Team wachsen zu lassen, welches über die Jahre osteopathische Kultur mitbekommen hat und alle Aspekte und die osteopathische Methodologie kennt. So können wir von Beginn an das „große Bild“ der Osteopathie und ihre Prinzipien skizzieren, vermitteln und verlieren uns nicht in einzelnen Techniken. Der Anatomieunterricht ist zum Beispiel angewandte Natur und die Bilder entstehen schlussendlich nicht in der Powerpoint Präsentation auf dem Computer, sondern in den Köpfen der Schüler. Auch die dynamischen Prozesse der Embryologie mussten wir lernen angepasst zu vermitteln. Arthur Wojtowicz hat mittlerweile eine große Modellkollektion angefertigt. So hat jedes Fach seine Anpassung erfahren.
Fällt angehenden Osteopathen, die sehbehindert oder blind sind, das Erlernen der osteopathischen Diagnose und Behandlung grundsätzlich leichter?
Das lässt sich so einfach nicht beantworten. Grundsätzlich können sich die Blinden nicht von ihren Augen täuschen lassen, was den Sehenden und Sehbehinderten doch sehr oft widerfährt. Die Blinden sind im Allgemeinen sehr gut in der Perzeption. Leider haben sie diese oft in ihrer Physiotherapie-Ausbildung verlernt. Aber wenn sie die Perzeptionfähigkeit wieder in den Vordergrund bekommen, sind sie wesentlich besser als Sehende. Bei den Sehbehinderten stellen wir oft fest, dass sie gerne zu viel Energie darauf verwenden, trotz ihrer Einschränkung ihre Augen maximal nutzen zu wollen, statt auf ihre Perzeption zu vertrauen. Wenn man - und das gilt für alle gleichermaßen - lernt sich auf seine Hände, welche denken, sehen, fühlen und wissen, zu verlassen, dann fällt die osteopathische Diagnose sowie die differentialdiagnostische und die Behandlung leichter.
Ihr bietet auch einen externen Dissektionskurs für Blinde und Sehbehinderte an. Welches sind hier die Besonderheiten?
Wir bieten diesen Kurs nicht direkt an, sondern bieten unserer Zielgruppe die Möglichkeit in Marburg an diesem speziell für sie durch PD Dr. R. Westermann und seinem Team kreierten Kurs im Anatomischen Institut der Universität (Projektbereich für anatomische Weiterbildung und Präparation) teilzunehmen. Die Besonderheit ist, nicht nur mit den Händen die Präparate unter Führung fühlen und sehen zu können, sondern auch eine Dissektion fast Schritt für Schritt mit den Händen sehen zu können.