Interview mit Dr. phil. Albrecht Kaiser zu seiner Dissertation über die Osteopathie
(2-2017)
Dr. phil. Albrecht Kaiser
Von Christoph Newiger
Der Osteopath Albrecht Kaiser hat an der Universität Witten-Herdecke über „Die Wirklichkeit der Osteopathie. Pragmatistische und phänomenologische Wurzeln einer komplementärmedizinischen Heilmethode. Eine Neubestimmung für das 21. Jahrhundert“ promoviert. Für seine Dissertation hat Albrecht Kaiser am 19. April den Grad eines Doktors der Philosophie verliehen bekommen. Lieber Albrecht, Glückwunsch zu deinem erlangtem Doktortitel in Philosophie. Deine Dissertation hat die Osteopathie zum Thema. Du hast dich also als Philosoph und Geisteswissenschaftler mit der Osteopathie beschäftigt und nicht als empirischer Wissenschaftler oder Naturwissenschaftler, der etwa die Wirksamkeit der Osteopathie nachweisen will. Was ermöglicht der geisteswissenschaftliche Zugang, was eine naturwissenschaftliche Herangehensweise zur Osteopathie nicht erlaubt? Es gibt da verschiedene Aspekte, warum ich diesen Weg über die Philosophie gewählt habe: Grundsätzlich habe ich mich gefragt, was steckt drin in der Osteopathie an Philosophie, an theoretischem Konstrukt, wenn es draufsteht bzw. wenn über fünf Generationen von Osteopathen diesen Punkt der Philosophie immer so wesentlich betonen – und das sollte dann für jeden von uns mehr sein als nur das mantrartige Gebet zu und über die first principles.
Ferner hatte ich - deiner Frage folgend - den empirischen Zugang zur Osteopathie schon vorweg in zwei Qualifikationsschriften bedient. Zum einen mit einer DO-Studie bei der AFO in Form einer klinischen Studie über die Wirksamkeit der osteopathischen Behandlung bei Spätfolgen zum Schleudertrauma. Das war 2003.
Und daran aufbauend 2010 mit der Entwicklung eines Studienprotokolls für eine groß angelegte multizentrische Studie, die ich zum Abschluss des Masterstudiengangs in Kirksville (USA) bei der Mutter aller osteopathischen Hochschulen angefertigt und verteidigt habe.
Das war ein Novum damals europaweit, dass wir als deutsche Osteopathen diese Chance durch den ehemaligen Präsidenten der ATSU J. McGovern bekamen: Einsichten in den akademischen Lehrbetrieb der Amerikaner zu gewinnen als auch dort einen Abschluss in Form des Masters in Osteopathic Clinical Research Science zu erlangen, der uns alle (wir waren ca. 24 Osteopathen) qualifizieren sollte, in Deutschland daran anzuknüpfen.
Ich tue dies infolge mit den Ergebnissen meiner Promotion. McGovern sah in den handwerklich gut gemachten DO-Arbeiten der 1990er – 2000er Jahre der Deutschen ein echtes wissenschaftliches Potential, von dem er uns auf diesem Wege eine „Anschubfinanzierung“ gab zur Akademisierung der deutschen Osteopathie. Was ja auch gelang! Das vielleicht hier zum fachspezifischen geschichtlichen Hintergrund.
Nun zum Kern deiner Frage: Ich habe den Begriff der Wirklichkeit der Osteopathie deshalb mit Bedacht gewählt, weil die Wirksamkeit, also der Effekt osteopathischen Handelns weltweit beforscht wird. Da gibt es in den letzten 10 Jahren gute quantitative Ergebnisse, die aufzeigen, dass die Osteopathie in ihrer praktischen Anwendung nachweislich wirkt. Aber ich frage mich in meiner Arbeit dazu kontrastierend, hätte die Osteopathie auch dann eine begründete Wirklichkeit, wenn der Nachweis ihrer Wirksamkeit wegfiele?
Das war einst meine Einstiegsfrage und ich habe diese damals intuitiv mit Ja beantwortet. Solches wollte ich systematisch aufarbeiten und das im Schutze und mit der Unterstützung einer Universität als ordentlich eingeschriebener Promovierender.
Ich erkannte vor sieben Jahren, dass der Osteopath in den empirischen Wissenschaften nicht existiert. Ihn gibt es nicht als handelndes, selbstbestimmtes Wesen. Er wird dort – im Gegenteil – als Störgröße, als Placebo-Effekt rausgerechnet!
Die Perspektive der sog. 1.-Person-Singular (Das Selbst (Ich) als Osteopath) oder, was passiert beim Osteopathen, also bei mir, wenn er/ich das Gewebe be-greift, behandelt, wird bisher nur schwach beforscht. Und das ist doch eine spannende Frage auch zur Reflexion auf sich selbst hingewendet.
Hier geht es um erlebte Qualitäten und nicht naturwissenschaftlich einzuholende Quantitäten osteopathischen Erlebens. Und diese erlebten Qualitäten kann nur der Osteopath in seinem Selbstbezug „generieren“ und darüber berichten.
Deine Doktorarbeit gliedert sich in fünf Teile. Im ersten Teil behandelst du die „Tastwelt der Osteopathen“. Was genau hast du untersucht und zu welchen Schlussfolgerungen bist du gekommen? Ja, die Tastwelt der Osteopathen ist der therapeutische Raum, wo Osteopath und Patient sich konkret begegnen und ein tastendes dialogischen Feld sich auftut durch die wechselseitige Berührung bzw. das Berührtwerden, der erstmals stumm ist. Dazu untersuchte ich mittels eines halb standardisierten Interviewfragebogens weltweit 36 sehr erfahrene Kollegen, wie die werten Osteopathen wahrnehmen, wenn sie osteopathisch tätig sind, also ich befragte sie zu ihren erlebten Palpationsqualitäten, wenn sie das Gewebe berühren und in und mit diesen erkenntnisgewinnend arbeiten.
In der Neubestimmung für das 21. Jahrhundert steckt die Frage nach dem handelnden Osteopathen selbst: Wer ist er, der Osteopath? Ich bin ja selbst einer mit 27 Jahre Praxiserfahrung. Dennoch muss ich immer wieder mich selbst befragen nach meiner Wahrnehmung in der aktuellen Erfahrung, wenn ich behandele.
So nenne ich den Osteopathen in meiner Arbeit einen „homo percipiens“, also einen wahrnehmenden Menschen, der mit einem sehr spezifisch trainierten Körper – was aber zu kurz gegriffen ist: Leib beschreibt es hier treffender – ausgestattet sein muss, um als Wahrnehmender osteopathisch erfolgreich zu sein für den Patienten.
Und jetzt wird es philosophisch: Es muss der Begriff des Leibes, der in der europäischen Philosophiegeschichte eine lange Tradition hat, hier irgendwie für die Osteopathie greifbar und sinnvoll rezipiert werden, um den Osteopathen in den Wissenschaftsdiskurs der gegenwärtigen Philosophie einzuführen. Und so einzuführen, dass er sich sowohl auf die Merkmale der Gründerväter stützen kann und gleichzeitig aktualisiert dem philosophischen Diskurs im 21. Jahrhundert standhält.
Da beginnt die eigentliche Arbeit, wenn man sich einem solchen Forschungsprojekt nähert und meint, dazu etwas zu schreiben. Man sucht nach philosophischen Haltepunkten, um seine Ideen zum Wissenschaftsdiskurs zur Osteopathie/osteopathischen Medizin einzubringen.
Mit der Setzung der oben beschriebenen Tastwelt ist in der Folge eine spezifische Perspektive auf den Osteopathen gerichtet, die ich in Folge über 300 Seiten weiter entwickele und untersuche.
In den Kapiteln II und III bist du auf Andrew Taylor Still und John Martin Littlejohn eingegangen. Welche neuen Erkenntnisse über die „Gründerväter“ der Osteopathie hast du gewinnen können? Es gibt zu den Schriften der Gründerväter weltweit dankenswerter Weise hermeneutisch gut aufbereitete Arbeiten, auf die ich dankbar zurückgreifen konnte. Mich hat vor allem bei Still und Littlejohn interessiert, wie diese Schriften ideengeschichtlich und wissenschaftskonstituierend geschichtlich am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert zur Gesamtlage der Philosophie als auch zur Medizin einzuordnen sind.
Bedenken wir auch, dass die Osteopathie sich in der USA konstituiert hat. Dort, wo die philosophische Marschrichtung eine ganz andere war als damals in Europa. Das ist eine interkulturelle Fragestellung.
Ich gebe hierfür ein Beispiel: die Natur, bzw. der Begriff Natur und was darunter verstanden wurde, unterlag philosophisch in dieser Zeit völlig unterschiedlichen Betrachtungen in der USA und bei uns in Europa. Und Du kannst Dir vorstellen, was das bedeutet, wenn Still von „der Natur bis ans Ende zu vertrauen“ schreibt. Dann muss erst einmal untersucht werden, was die Natur bzw. das Naturverständnis bei Still bedeutet. Dies auch mit dem interkulturellen Hintergrund, dass er mit indigenen Volksstämmen friedlich im gedanklichen Austausch stand. So was prägt das Denken als auch die Sprache.
In Europa gab es bekanntlich keine Indianer. Das hat weitreichende Folgen, denn der Mensch ist auch Teil der Natur. Und das Verständnis von Krankheit und Gesundheit in diesem Zusammenhang auch!
In Kapitel IV geht es um den französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty, den wahrscheinlich die wenigsten kennen. Warum ist seine Phänomenologie wichtig für die Osteopathie heute und was genau hast du untersucht? Mit Merleau-Ponty, sind wir in den 40er bis 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in Frankreich. Ich suchte nach einem Gewährsmann für eine mögliche moderne Rezeption einer gelebten leiblichen Wirklichkeit, die ich für den Osteopathen annehme und in Folge gedanklich aufbereite.
Merleau-Ponty war ein französischer Phänomenologe, der die Stellung des Menschen in der Welt, also das Leib-Welt-Verhältnis, unter sehr speziellen Aspekten sein Leben lang untersuchte. Die Phänomenologie selbst, als systematische philosophische Wissenschaft des subjektiven Erlebens, ist für uns Osteopathen sehr hilfreich unter einer spezifischen Perspektive, um das zu erklären, waswer und was wir wie sind und wie wir z. B. therapeutisch arbeiten (sollten), um uns besser in unserer Profession zu verstehen.
Denn Wahrnehmen ist immer mit einer leiblichen Praxis verbunden (da haben wir wieder den Leib) und diesen erkenntnistheoretischen Hintergrund arbeite ich über die Phänomenologie Merleau-Pontys für die Osteopathie auf.
Interessanter Weise habe ich bei den interviewten Osteopathen viele Äußerungen gehört, die sich mit Merleau-Pontys philosophischem Konstrukt von „Leib-Sein-zur-Welt“ decken. Und auch bei anderen Phänomenologen (z. B. M. Henry, T. Fuchs) konnte ich feststellen, dass der Osteopath genuin in seiner Hinführung zum Wahrnehmen Elemente dieser Philosophie in seinem Verhalten in sich trägt, ohne dass er die Schriften der Autoren kennt! Das war ein Erweckungserlebnis für mich, dass ich mit meiner Grundannahme für die Arbeit richtig lag.
Dein fünftes Kapitel behandelt den „Neuzugang zur Osteopathie für das 21. Jahrhundert“. Dabei spielen der Begriff der Autopoiesis, ebenso wie der Semiotiker Charles Sanders Peirce eine wichtige Rolle. Warum sind sie für einen Neuzugang zur Osteopathie wichtig? Wir haben eine nur schwach ausgebildete Medizintheorie bisher entwickelt in unserer jungen Profession. Und diese orientiert sich stark an tradierten Vorstellungen einer Physiopathogenese.
Ich propagiere bzw. suche nicht den Bruch mit der wie auch immer gearteten Schulmedizin – das taten die Gründerväter auch nicht –, aber das langläufig von uns gelebte therapeutische Konzept eines Wirkmechanismus, der nicht physikalisch zu erklären ist, so meine Annahme, nicht genügend beforscht worden aus unseren Reihen. Zeitgenössische philosophische Strömungen, die unter ganz anderen Voraussetzungen eine immaterielle Lebenskraft unterstellen, sind da viel weiter als wir. Ich nenne nur den Terminus „Embodyment“ und „Enaktivismus“.
Folglich habe ich in meiner Arbeit nach einer Kontinuitätsthese für die Osteopathie gesucht, die beim Geist beginnt und bis in den Organismus, ins Gewebe hinein sich stützt und so die Still’sche Annahme der „bestimmten Lebenskräfte“, „vitalisierten Flüssigkeit“ und „vitalisierende Prozesse“ philosophisch beredsam und begründbar machen soll.
In deinem abschließenden Fazit gibst du zwei Empfehlungen für die osteopathische Profession ab. Kannst du diese kurz skizzieren? Für den Osteopathen ist es heute zu kurz gegriffen, seine Profession nur über technisches Behandeln zu erklären mit der Beimischung von osteopathischen Prinzipien, wenn er sich in seiner 1.-Person-Perspektive ernst nehmen will.
„Der ursprüngliche Denker“, so einst von Still gefordert, muss auch eingelöst werden; er sollte sich ein erlebbares Selbst verleihen, das dem osteopathischen Bewusstsein in seinem Wirklichkeitserleben gerecht wird.
Der theoretische Ertrag meiner Arbeit zeigt deutlich, dass er die „interorganismische Kommunikation“ kennt, diese praktiziert und teilt mit jedem Patienten, aber die Erlebnisse dieser „stummen, aber zeichenhaften Kommunikation“ nicht oder nur schwer in eine verbindliche, sinngültige Sprache überführen kann.
Das ist für unser Fach wissenschaftskonstituierend jedoch die Voraussetzung, sonst können wir keine (qualitative) Wissenschaft betreiben und gehen im Lehrgebäude der „übrigen“ Medizin nicht nur in diesem Punkte unter.
Nur „zu fühlen, dass...“ reicht nicht. Wir müssen uns in Zukunft so einrichten und weiterentwickeln in dieser Sache, dass wir uns international so darüber austauschen können, dass, wenn ich fühle, wie ich das, was ich wahrnehme, mit Sprache belege, damit auch der Kollege in Australien etwas Vergleichbares darunter versteht.
Nur so wird die Osteopathie vermittelbar (Lehre der Osteopathie) und auch überprüfbar (Wissenschaft der qualitativen Forschung in der Osteopathie).
Du planst deine Doktorarbeit zu einer Monographie umzuarbeiten. Kannst du schon sagen, wann diese wo erhältlich sein wird? Ich will mal so sagen bzw. das Folgende voranstellen: Die Arbeit wurde nicht geschrieben um sie in die Bibliothek zu stellen, damit sie dort gesucht werden muss. Das, was ich aufzeige, muss publiziert werden! Muss mit einer fachöffentlichen Rezeption in Folge verbunden sein - auch wenn es jetzt gleich wieder dafür anstrengend werden wird für mich, das alles neu zu formulieren. Denn so liest das kein geneigter Kollege.
Die Art und Weise, wie die Arbeit als Qualifikationsschrift verfasst und vorgelegt werden musste, unterlag strengen Kriterien einer akademischen Lebenswelt, die ich auch erst in ihrer Tragweite über die Zeit zu lernen hatte.
Philosophisches Schreiben ist schweres Handwerk für den, der von der Behandlungsbank kommt. Die Texte müssen neuerlich geschmeidig, müssen leserfreundlich runtergebrochen werden. Sie sollen den interessierten Osteopathen erreichen, dass er sich in Teilen darin erkennt und als Grundlage für Diskussionen über sein Selbst und das des eigenen Fachs angeregt wird.
Ferner sollen die Studierenden ganz unterschiedlicher Fachbereiche neben sonstigen Lehr- und Textbücher zur Osteopathie hierdurch auch Anregungen finden, die sie als einen möglichen diskursiven Ausgangspunkt für ihre eigene Forschung nutzen sollten.
Mit diesen Absichten im Hintergrund bin ich gerade dabei, nach einem geeigneten Verlag zu suchen. Er soll ein philosophischer Fachverlag sein. Ich will so versuchen, die Rezeption und Diskussion zur Osteopathie in diesem kulturwissenschaftlichen Feld in die Öffentlichkeit tragen. Den wissenschaftskonstituieren Raum groß machen für die Wissenschaftsphilosophie der Osteopathie. Bewusst weit ausgelagert von der scientific community, die dieses Interview gerade liest. Denn diese weiß meist Bescheid, um was es geht, wenn sie ihren Patienten erklärt, was Osteopathie ist – oder vorgibt, was es zu sein scheint.
Ich weiß noch nicht, wann die Arbeit im Buchhandel erhältlich sein wird. Aber ich werde es Dir berichten, damit Du es auf Osteokompass posten kannst. Ich freu mich, wenn es so weit sein wird.
Lieber Albrecht, vielen Dank für das Interview! Das habe ich sehr gerne getan.